Friedhof
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Re: Friedhof
von Angelina am 04.02.2016 22:47Der trockene Kies knirschte unter meinen Füßen. Ein Geräusch, das tausendmal lauter schien als in Wirklichkeit war. Einfach deswegen, weil hier ansonsten absolute Stille herschte. Und irgendwie passte es. Gleichzeitig aber schien es der abwegigste Gedanke überhaupt zu sein: Ich ging Fred besuchen. Wollte ich ihn früher besuchen, in der Zeit nach unserem Abschluss, war ich entweder durch die überfüllte Winkelgasse gegangen und hatte ohne Voranmeldungen den Laden der Zwillinge betreten oder aber direkt an ihre Wohnungstür geklopft. Auf jeden Fall war es nie still und ruhig gewesen. Weder um sie herum, noch in ihrer Wohnung. Warum auch? Ruhe war das Letzte, was man mit Fred und George in Verbindung gebracht hatte. Weil es einfach nicht passte.
Hier allerdings schien es zu passen. Die Ruhe und gleichzeitig auch die Tatsache, dass ich mutterseelenalleine auf dem Friedhof war. Auch wenn ich mich nicht suchend umgesehen hatte, wusste ich, dass niemand anderes hier war. Dafür war der Friedhof viel zu übersichtlich gestaltet. Eigentlich komisch. Gerade nach der Schlacht, wo unzählige neue Gräber hinzu gekommen waren, hätte es mich nicht gewundert, anderen Leuten über den Weg zu laufen. Aber anscheinend hatte ich mir unbewusst eine gute Zeit ausgesucht. Es war das erste Mal, dass ich hier war. Seit der Beerdigung, bei der ich mich im Hintergrund gehalten hatte. Tagelang weigerte ich mich, hierhin zu gehen. Weil es alles so real und unumgänglich machte. Weil es mir vor Augen führte, dass es tatsächlich passiert war und ich nicht einfach so aufwachen konnte. Weil es ungemein wehtat.
Ich war nicht mehr ich selbst. Mehrere Bekannte und Freunde hatten versucht, mir zu helfen, waren aber gescheitert. Was hatte ich auch tun sollen? Einfach so weitermachen? Seine Familie besuchen? Ganz sicher nicht. Alleine bei dem Gedanken, wie es seinen Brüdern, seinen Eltern - und vor allem George - gehen musste, schien sich mein Magen schmerzhaft zu verknoten. Nein, ich würde ihnen nicht unter die Augen treten können.
Inzwischen knirschte der Kies nicht mehr, weil ich die Wiese betreten hatte. Wie von selbst trugen mich meine Beine zu seinem Grab und das, obwohl ich erst ein einzigel Mal hier gewesen war. Ich blieb stehen. Auf meiner Brust breitete sich ein tonnenschwerer Stein aus, der mich zu erdrücken drohte. Ich verlor den Halt, haftete mein Blick auf den grauen Grabstein und zwang mich, tief durchzuatmen und die Innschrift zu lesen. Den Namen zu lesen. Seinen Namen. Es war kalt. Obwohl es Mai war. Verrückt. Ich strich meine Haare aus dem Gesicht und dann - bevor mich der Mut erneut verlassen konnte - bückte ich mich schnell und legte die einzelne Rose vor den trostlosen Stein.
Meine Gedanken flogen zurück zu dem Tag der Schlacht. Zu dem Moment, in dem ich die große Halle betreten hatte und ihn auf dem Boden liegen sah. Zu dem Moment, in dem meine Welt zerbrochen war.
Death is the cure of all diseases.
The life of dead is replaced in the memory of the living.
Re: Friedhof
von George am 05.02.2016 15:23Die Schlacht war nun schon fast ein Jahr her. Ein langes schleppendes Jahr. Und doch fühlte es sich immer noch so an, als hätte mein Zwillingsbruder erst gestern neben mir gestanden, bis diese schreckliche Explusion ihn von meiner Seite gerissen hatte. In den ersten Monaten hatte ich nicht mal die Kraft gehabt den Laden zu öffnen, aus Angst, dass ich es alleine nicht schaffen würde. Irgendwann hatte ich es dann doch versucht und es hatte auch geklappt. Die ersten Wochen waren purer Stress gewesen, doch dann hatte ich mir eine Aushilfe besorgt und mir etwas Freizeit geschaffen. Erst dann war mir aufgefallen, dass ich nichts hatte, was ich in meiner Freizeit tun konnte. Meine Familie besuchte ich nur so selten es ging. Ich wusste, dass vor allem Mum sich sorgte, aber es war einfach nicht das gleiche. Ohne Fred fehlte mir meine bessere Hälfte und niemand schien das wirklich zu verstehen. Hin und wieder schweiften meine Gedanken zu Angelina. Das letzte Mal hatte ich sie bei Freds Beerdigung gesehen, doch da hatte sie sich nur im Hintergrund gehalten. Ich hatte auch versucht sie zu kontaktieren, doch meine Briefe schienen sie nie erreicht zu haben. Früher waren Fred, Angelina und ich unzertrennlich gewesen und sie war über die Zeit sowas wie meine beste Freundin geworden, doch mittlerweile bezweifelte ich, dass sie das noch war.
Immer wenn ich einen meiner Tiefpunkte hatte, machte ich mich auf den Weg zu Freds Grab. Auch wenn es vielleicht verrückt klang, aber nur dort hatte ich das Gefühl Fred irgendwie nahe zu sein. Hier auf dem Friedhof war es immer friedlich und ich musste mich nicht verstellen, musste nicht so tun, als würde es mir gut gehen. Das war für mich das schwierigste, wenn ich in Anwesenheit meiner Familie oder Freunde so tun musste, als hätte ich den Tod meines Zwillingsbruders schon verarbeitet. Bei meinen anderen Geschwistern war das wahrscheinlich schon der Fall, aber ich kam einfach nicht darüber hinweg. Es kam mir beinahe so vor, als machte die Zeit meine Wunde noch größer.
Ich achtete bei meinem Gang zu Freds Grab nicht wirklich auf meine Umgebung. Erst als ich fast schon am Grab war, fiel mir auf, dass ich nicht alleine war. Jemand anderes stand vor dem kleinen Grabstein und hatte eine Blume oder ähliches darauf abgelegt. Zunächst erkannte ich die Person nicht, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Angelina?", sprach ich meine Gedanken laut aus.
Dort saß die ehemalige Freundin meines Bruders, die ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Fred hatte das sicherlich nicht so gewollt, aber aus irgendeinem Grund wurde ich wütend. So lange hatte sie sich nicht gemeldet, hatte nicht einmal ein Lebenszeichen von sich gegeben und dann kam sie dreisterweise einfach so hier zu seinem Grab? Vor einem Jahr hätte ich sie gebraucht, als die einzige Person, die meinen Bruder wahrscheinlich annähernd so geliebt hat, wie ich, aber sie hatte sich verschanzt und meine Briefe ungelesen zurückgeschickt. Sie war weggelaufen, um sich selbst zu schützen.
"Was tust du hier?", fragte ich hölzern.
Re: Friedhof
von Angelina am 05.02.2016 23:36Gott, ich vermisse dich so sehr.
Ich war noch nie ein Mensch gewesen, der an irgendwas Übermächtiges glaubte. An einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod. Zwar würde ich es genauso wenig abstreiten, aber ich hatte mir einfach nie Gedanken darüber gemacht. Warum auch? Mit gerade einmal zwanzig Jahren? Sozusagen in der Blüte des Lebens? Selbst als es auf die Schlacht zu ging, als klar wurde, dass ein Kampf unvermeidbar war. Selbst dann hatten wir uns keine ernsthaften Gedanken darüber gemacht, hatten sie einfach nicht zugelassen. Schon gar nicht Fred. Ein einziges Mal hatte ich versucht, das Gespräch in diese Richtung zu lenken. Er hatte nur gelacht, abgewunken und gemeint, dass er in ihrem ganzen Repertoir an Scherzartikel genug hatte, um alle Todesser der Welt wegzusprengen. Und er hatte gesagt, dass ich mir ein Leben ohne ihn doch sowieso nicht vorstellen konnte. Er hatte Recht gehabt. Verdammt recht. Ich war noch nie ein Mensch gewesen, der mit Toten sprach. Schon gar nicht an ihren Gräbern. Und doch drifteten meine Gedanken wie von selbst ab; in meinem Kopft hörte ich meine eigene Stimme, die so tat, als würde er genau hier vor mir stehen und antworten können.
Und dann hörte ich ihn. Für eine unglaublich lange Sekunde, die gleichzeitig so schnell vorbei war, wie ein einzelner Wimpernschlag, kollabierte meine Lunge; ich war nicht mehr fähig, weiterzuatmen. Weil sich seine Stimme fast anhörte wie die, seines Bruders. Weil selbst ich, die jahrelang Zeit mit ihnen verbracht hatte, vergessen hatte, wie ähnlich ihre Stimmfarben klangen. Dann war die Sekunde vorbei. Die Welt begann sich wieder zu drehen, ich fuhr herum und sah ihn. George. Das Spiegelbild seines Bruders. Und gleichzeitig auch gar nicht. Ich hatte sie schon immer auseinander halten können, hatte noch nie Probleme damit gehabt, beide als eigenständige Menschen zu sehen. Nicht so wie die Anderen. Was ich hier tat, hatte er gefragt, noch während ich ihn wortlos anstarrte. Meine Hände verfingen sich in dem Saum meines Mantels. Ich sah ihn an, öffnete mehrmals den Mund und brauchte doch eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich irgendwas rausbekam.
"Ich... weiß es nicht." Und das war die Wahrheit. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier tat oder bezwecken wollte. Fred war tot und wir beide wussten das. Es brachte rein gar nichts, an seinem Grab zu stehen und nach ihm zu rufen. Und trotzdem tat ich es. Ich schluckte, hob den Kopf und blinzelte angestrengt, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. "Tut mir leid. Das mit den Briefen. Ich.. konnte nicht." Weil du mich an ihn erinnerst. Und jedes Mal, wenn ich dich sehe, an dich denke, weiß ich, dass es dir noch so viel schlimmer gehen muss als mir. Aber das sagte ich nicht, weil ich den Mut nicht fand. George war sauer. Und das zurecht. Ich hatte das ganze Jahr über nur als Freundin eines Toten gelebt und George als Bruder meines Freundes gesehen. Ich hatte vergessen, dass ich gleichzeitig auch die beste Freundin eines Hinterbliebenen war. "Ich... kann morgens nicht aufstehen. Ich gehe nicht mehr arbeiten. Ich... Alles geht den Bach runter.."
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Re: Friedhof
von George am 07.02.2016 08:41Als sie sich zu mir umdrehte, wurde mir klar, dass sie niemanden hier erwartet hatte und wahrscheinlich am aller wenigsten mich. Dennoch standen wir beide nun hier am Grab meines Bruders, ihres Freundes. Sie verletzlicher aus denn je. Früher war sie immer die toughe Quidditchspielerin gewesen und nur selten hatte ich sie weinen sehen, doch in diesem Moment schien es als würde die Last der Welt auf ihren Schultern ruhen. Allerdings konnte ich kein Mitleid für sie empfinden, denn genauso ging es mir auch. Sie hatte keine wirkliche Antwort auf meine Frage, was sie hier tat, deswegen blieb ich weiterhin still. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte oder konnte. Ich wollte mich nicht meiner Wut hingeben und am Ende bereuen, was ich ihr gesagt hatte. Das war nie meine Art gewesen. Ein Teil von mir wollte sie in diesem Moment nur in den Arm nehmen und ihr versprechen, dass alles wieder gut wird, doch das würde es nicht. Egal wie oft ich mir diese Lüge selbst eingeredet hatte, sie war nie wahr geworden. "Das hätte Fred nicht so gewollt.", sagte ich tonlos. Fred hätte vieles nicht gewollt, so vieles, allem voran wollte er nicht sterben, doch manchmal konnte man nichts dagegen tun. So vieles war in diesem Jahr passiert, dass Fred sicher nicht gewollt hätte. Manchmal kam es mir so vor, als würde er vor mir stehen und mir eine gehörige Standpauke a la Mum verpassen, aber dann war der Moment auch schon wieder vorbei. Hin und wieder dachte ich wirklich, ich würde langsam verrückt werden. Aber das war mir mittlerweile auch vollkommen egal.
"Ich habe dich gebraucht, Angelina, so wie du mich anscheinend gebraucht hast. Wir drei waren früher unzertrennlich und ich dachte wirklich, du wärst meine beste Freundin gewesen." Ich zwang mich zu schweigen, damit ich sie nicht noch unnötig verletzte. Ich konnte nicht anders, als näher zu ihr zu gehen, aber ich blickte dabei auf das Grab meines Zwillingsbruders. "Der Laden läuft gut. Die neue Aushilfe, Ashley, ist wirklich fleißig und bringt ein bisschen Schwung in die Hütte. Sie hat ein paar gute Ideen für neue Produkte, aber ich traue mich noch nicht wirklich etwas neues auszuprobieren." Mir war es egal, wenn Angelina mich nun für verrückt hielt, doch ich wollte Fred, wie sonst auch immer, eine Art Statusbericht bringen. Und ihre Anwesenheit - vor allem ihre Anwesenheit - hielt mich sicherlich nicht davon ab.
Ohne groß darüber nachzudenken, setzte ich mich einfach auf den Boden vor dem kalten Grabstein.
Re: Friedhof
von Angelina am 14.02.2016 02:06Die ganze Zeit über war ich stumm gewesen. Ließ ihn reden, ließ ihn mich ansehen. Was er sah, wusste ich nicht und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es wirklich wollte. Ich musste aussehen, wie ein Wrack. Genauso wie er selbst. Und dass George sauer war, war auch nicht zu übersehen. Zu Recht? Vielleicht. Anstatt für ihn da zu sein, anstatt uns gegenseitig zu stützen, hatte ich den Kopf eingezogen und war verschwunden. Ja, irgendwie konnte ich ihn verstehen, hatte aber gleichzeitig keine Ahnung, wie ich ihm mein Verhalten erklären sollte. Weil ich es ja selbst kaum verstand. Ich wusste nur, dass es mir leid tat. Dass ich nicht der Grund für einen Teil seines Schmerzens sein wollte. Er sah enttäuscht aus. Enttäuscht von mir. Und dafür musste er noch nicht einmal irgendwas sagen. Ich sah es in seinen Augen. Das hätte Fred nicht gewollt. George traf damit den Nagel auf den Kopf. Vieles war aus dem Ruder gelaufen, fast alles. Und sie würden wohl niemals wieder ein halbwegs normales Leben führen konnten. Auch wenn das alle anderen sagten. Die Zeit heilt alle Wunden. Am Arsch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendwann besser werden würde. Weder für mich und noch weniger für George, der täglich an Fred und all das erinnert werden würde, wenn er nur in den Spiegel sah. Völlig egal, ob drei Monate oder fünf Jahre vergangen waren.
Ich war seine beste Freundin. Ich bin seine beste Freundin. Wenn er es denn noch wollte. Ich schluckte, beobachtete ihn weiter, wie er auf mich zukam. Im ersten Moment dachte ich, er wollte mich in den Arm nehmen, hatte tatsächlich die Hoffnung, dass er... keine Ahnung... irgendwas tun würde. Dann aber wurde mir klar, dass er nicht zu mir wollte, sondern zu ihm. Und ich schämte mich augenblicklich für meine eigene Blödheit. Während George plötzlich anfing, mit Fred zu reden, stand ich teilnahmslos hinter ihm und fühlte mich plötzlich verdammt fehl am Platz. Wie der Lauscher an der Wand. Immerhin erfuhr ich so, dass er den Laden tatsächlich wieder aufgemacht hatte. Und dass er eine Aushilfe eingestellt hatte. Mit den ganzen Informationen fühlte ich mich noch schlechter, weil mir bewusst war, dass ich ganz plötzlich kein Teil mehr von seinem Leben war. Und dass ich selbst Schuld war. Dann setzte er sich auf den Boden. Und schwieg. Schon wieder bildete sich ein Kloß in meinem Hals, gegen den ich nicht ankam. Ohne es wirklich zu merken, war ich noch näher getreten, stand inzwischen direkt hinter ihm. Ich holte tief Luft, sank in die Hocke und umarmte ihn von hinten. Mein Gesicht drückte sich vorsichtig gegen seinen Hals und endlich schaffte ich es, die Tränen einzustellen.
"Ich bin deine beste Freundin. Und es tut mir so leid. Ich, kann es dir nicht erklären und ich verlange auch gar nicht, dass du... irgendwas verstehst, oder auch nicht. Ich will für dich da sein. Und dir helfen. Uns."
Death is the cure of all diseases.
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